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Rezension von ANDREAS TIEFENBACHER,
In: Bücherschau 3/2020 Nr. 221 (online auf www.buecherschau.at)

anfangs noch

Prosastücke. Wien: Edition fabrik.transit 2019.

102 S. - fest geb. : € 13,00 (DR)

ISBN 978-3-903267-06-0

 

Die kurzen Prosatexte führen hinein in die Dumpfheit der spießbürgerlichen Welt, wo es einen Vormund gibt, der am Frühstückstisch sitzt, als wolle er „den Blick auf sein Genital freigeben“, während die mit Röntgenaugen die Situation beobachtende jüngere Erzählerin sich vorstellt, wie er Sessel schaukelnd den Halt verliert, mit dem Kopf ans Fensterbrett kracht und danach im eigenen Blut liegt.

Dass ein solcher Verlauf vorstellbar schiene, deutet die Autorin durch die Verwendung des Konjunktivs an. Immer wieder greift sie in ihren auf minutiösen Beobachtungen beruhenden, Filmsequenzen ähnlichen Schilderungen auf ihn zurück. Über die Annahme, was alles wahr werden könnte, gelingt es ihr, den dramatischen Möglichkeiten starke Kontur zu verleihen. Ja, Krendlesberger zeigt, wie tief ein „Übel unter der Haut“ zu nisten vermag. Sie stellt dazu Menschen in die Auslage, in deren Leben „Zu-kurz-Gekommenes“ dominiert und die sich daher die Frage stellen: Was und wie viel braucht man zum Glücklichsein?

So fällt der Blick in den Aufwachraum eines Krankenhauses, wo der „Wunsch, irgendwann einmal die Tür hinter sich zuzuschlagen“, im Kopf herumschwirrt; genauso wie er das Klagen einer Frau einfängt, die als Volksschülerin aus Angst vor dem Baustellenlärm unter den Schreibtisch geflüchtet ist; oder die entrückte Starre im Gesicht einer anderen, die auf einen roten Pullover einsticht.

Großteils sind es bemitleidenswerte Menschen, denen man begegnet. Unter ihnen ein von seiner Tochter im Pflegeheim besuchter Mann, der kein Fleisch mehr an den Knochen hat und Ohren, aus denen Borsten wachsen. Oder jener andere, der sich mit den Hänseleien seiner Mitschüler herumschlagen muss, sich als „einzig Anderes unter Gleichen“ fühlt und schon im um Hilfe bittenden Fragen während einer schriftlichen Prüfung durch den „tags zuvor noch spottenden Widersacher“ ein Gefühl der Zugehörigkeit empfindet, Jahre später aber noch immer auf der Suche nach Menschen ist.

Krendlesberger legt Wunden frei, die aufgrund von Defiziten oder unvorteilhaften Lebensumständen entstanden sind, und entwickelt Szenen, die über die große Kreativität und Dynamik ihrer Sprache eine Spannung herzustellen vermögen, „als würde man von seiner eigenen Haut erdrückt“. Der Gedanke, mit dem Leben aufzuhören, ist dabei genauso präsent wie das Bedürfnis, aus gewissen Tagen am liebsten „hinauslaufen“ zu wollen, weil sie nichts anderes zu bieten haben als lähmendes Dasitzen. Dieses dient als probates Mittel, um den Trübsinn der Ereignislosigkeit darzustellen. So geht es im trostlosen Dahinvegetieren in den Supermarkt und in den Park, wo in Sehnsucht nach jemandem auf ein Ereignis gewartet wird. Meistens ist dabei der Tag „so still, dass man sogar Gemurmeltes versteht“.

Kein Wunder, dass die Mehrzahl der im Fokus stehenden Personen „am Ungesagten würgen“ muss. Mit unangenehmem Ballast, der „steinern an den Schultern“ hängt, sind alle gut vertraut. Dementsprechend groß ist daher die Sehnsucht nach „blöder Geselligkeit“, ist es doch beim Auflachen kurz so, als fiele einem der Ballast von den Schultern. Doch schon im nächsten Moment „wird einem wieder ein neuer Sack, frisch gefüllt mit Steinen, auf den Rücken gewuchtet“.

Man trüge natürlich sein Kreuz leichter, wenn man sich gewiss sein könnte, Menschen zu haben, die einem in den schwierigsten Lebenslagen beistehen. Aber das „Für-den-anderen-da-Sein“ ist in unserer Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit, obwohl es allen Leidtragenden helfen würde, wieder Kraft zu tanken, die sie „beim Kreuzziehen“ benötigen. Diese Art melancholische Stimmung durchzieht diese hoch konzentrierten, das innere Erleben der Figuren ernst nehmenden Prosastücke, die in ihrer Andeutungsheftigkeit, Prägnanz und Unverblümtheit gleichermaßen bestechen wie beunruhigen.

Über die aus teilweise reduzierten Satzkonstruktionen bestehenden, mit einem Schuss Unheimlichkeit gewürzten, temporeichen Darstellungen diverser Menschenschicksale geraten auch die Wunden der Gesellschaft ins Rampenlicht; ein Licht, das durch seine sachlich kühle Eigentonigkeit und erzählwustfreie Strahlkraft beim Lesen ein Gefühl erzeugt, als würde man „Ameisen durchs Blut laufen“ spüren. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten!

 

Andreas Tiefenbacher