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Dichtungen III - Rezension von Helmuth Schönauer
GEGENWARTSLITERATUR 3341
Dichtungen III
Das Alphabet ist ein Zauberspruch, mit dem sich die Welt in eine poetische Ordnung bringen lässt. Nicht umsonst sind in Bibliotheken die Bücher alphabetisch aufgestellt.
Sonja Gruber fasst ihren poetisch-essayistischen Blick auf die Welt mit dem weitläufigen Begriff Dichtungen zusammen. Damit soll letztlich nur die Art der Linse beschrieben sein, mit der die Welt betrachtet wird. Es handelt sich um eine fiktionale Einstellung, wodurch die Weltimpulse gefiltert werden, ehe sie auf die Verarbeitungs-Box des Individuums treffen.
Im mittlerweile dritten Band der Dichtungen sind etwa 130 Eintragungen subsumiert. Bis auf ein paar Einstellungen, die einem Romanentwurf oder dramatischen Story-Board entsprechen, handelt es sich um Notizen, poetische Pointen, auffällige Sequenzen im Tagesablauf und überraschende Drehungen des Lebenssinns aus der Hüfte heraus.
Die Überschriften sind kunstvoll gestaltet, damit sie einmal ins Alphabet passen, und zum anderen einem ungewöhnlichen Sachverhalt gerecht werden. Oft werden die Wörter daher graphisch zerlegt, wie beispielsweise im ersten Begriff: „Ab_was_er“, worin der Tagesablauf in fragende Partikel zerfällt, die in einer besonderen Form von Abwasser weggeschwemmt werden. Eine zweite Besonderheit neben der graphischen Auflösung ist die Neubildung von Wörtern, wie sie oft aus einem Hörfehler oder sonstigem Defekt der Datenübertragung entstehen.
Als Beispiel taugt hier vielleicht der Begriff „Dramabet“ (29), womit ein dramatischer Werkzeugkasten angesprochen wird, der für alle Handlungsstränge einen passenden Spitzer anbietet, um das Drama al dente zu halten.
Einträge wie „Lippenfrost“ (68) und „Münzmond“ (72) machen sich die Kraft der Lyrik zu eigen, eine Szene so weit einzudicken, dass sie sich in einem einzigen Wort sagen lässt.
Wo Lyrik im Spiel ist, ist naturgemäß der passende Vogel nicht weit. Seit die echten Vögel beinahe ausgestorben sind, kommen sie umso häufiger in den Gedichten der zeitgenössischen Romantik vor. Im Gedicht „Vorvögel“ (116) ist gar nicht mehr von der Gegenwart die Rede, sondern der Gesang aus einer vergangenen Jahreszeit klingt nach, wenn auch eingefroren in Kälte.
Die Gedichte und Kleinerzählungen „funktionieren“ in etwa wie beim Optiker, wenn dieser diverse Filter vor das Auge legt, um Sehschärfen und Schraffuren zu messen. Im Falle der „Dichtungen“ spielt das Lyrische Ich so lange mit den Blickwinkeln, bis der poetische Gegenstand, die Stimmung oder die psychische Tagesverfassung mehrdeutig ausgeleuchtet ist.
„Schraffiert // Eine Erkenntnis kriecht ganz langsam in meinen Ärmel. Die Sonne kommt an diesem Tag kaum durch die Decke. In meiner Ellenbeuge sticht etwas. / Eine Fliege taumelt über mir. Als ob sie sich mit Absicht gegen eine Glaswand geschmissen hätte. / Ich nicke lieber wieder ein. / […] / Licht kommt ja heute doch keins mehr.“ (98)
Die Beobachtungsposition wird zum eigentlichen Thema, indem sich alle möglichen Sinne kurz einschalten und Irritationen, Überforderung oder Überreizung melden. Mit der Abwesenheit von Licht erübrigt sich letztlich jede Überlegung, wie ein Sachverhalt ausgeleuchtet werden könnte.
Das Zerfallen der Bilder während der Beobachtung leitet auch jene magische Dramaturgie, die in dem größeren Prosatext „entwischt“ (37) zur Anwendung kommt. Eine Ich-Erzählerin, die nach dem Ausscheiden aus dem Körper ihre Identität rekonstruiert, ist offensichtlich einem Verführer anheim gefallen, der ihr mit Trugbildern, Drogen und Drohungen nach dem Leben trachtet. Zusammengeflickt aus Bildern vom Schulhof, überblendet von Glücksvorstellungen im Hochglanzformat, nimmt die Bedrohung die Züge eines Henkers an, der die Erzählerin zur Strecke bringt. Die Szene lässt sich religiös wie bei Fronleichnam deuten, forensisch wie nach einer Kripo-Untersuchung oder psychedelisch wie nach einem missglückten Trip. Vielleicht ist es aber auch nur eine Todesdarstellung mit Perspektivenwechsel. Die Erzählerin ist bereits aus jeglichem kollektiven Bewusstsein gestrichen, nur mit größter Anstrengung lässt sich noch ihr Name finden. „Ich hieß, ahne ich erst jetzt, doch nicht Bea oder Berta, sondern Bernadette. Ich sage lieber nichts, man glaubt mir ja doch nicht.“
Die Dichtungen III enden mit einem offenen Erzähl-Abgang. Die letzte Eintragung „Zwischengeschichten“ macht darauf aufmerksam, dass nichts zu Ende ist, was sich zwischen den Zeiten bewegt. Diese poetischen Kleinode leben von der Flüchtigkeit und der Versuchung, sich zwischen den Dingen zu verkriechen.
Das Abwasser des Anfangs verkriecht sich letztlich in den Zwischengeschichten. „Was linst der Tag / in dein dünnes Haar?“ (126)
Sonja Gruber zeigt neben den poetischen Schaustücken des Alltags vor allem eine Methode, wie sich dieses Chaos an Eindrücken meistern ließe. Und sie vertraut letztlich auf das Alphabet, wie ganze Generationen von Bibliothekarinnen, die ihr schelmisch zunicken: Es gibt nur jene Ordnung, die man sich selbst schafft.
Sonja Gruber:
Dichtungen III. Gedichte und Miniaturen.
Wien: edition fabrik.transit 2024. 134 Seiten. EUR 19,-. ISBN 978-3-903267-60-2.
Sonja Gruber, geb. 1985 im Salzburger Land, lebt in Bad Leonfelden.
Helmuth Schönauer 07/02/24
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