Poetiken der Überschreitung – Eleonore Weber: Landkarte im Maßstab 1:1

Einführung und Kontext
Der Titel „Landkarte im Maßstab 1:1“ nimmt Bezug auf eine künstlerische Praxis. Eine Landkarte, die im gleichen Größenverhältnis über dem Gegebenen liegt, es verdeckt und als Beschreibung mitgenommen wird, kann als Metapher für das Schreiben gesehen werden.

Wie schon in ihrem Buch „In den Sätzen“ hinterfragt Eleonore Weber die Voraussetzungen für die Entstehung von Texten, diesmal mit einem stärkeren Fokus auf Fragen der künstlerischen Existenz und des Kunstmachens. Das einleitende Zitat von David Bowie „I think it’s terribly dangerous for an artist, to fulfill other people‘s expectations, they generally produce their worst work …“ kann auch als Selbstaufforderung gelesen werden, sich auf die ursprüngliche Intention der künstlerischen Äußerung zu besinnen und somit die Adressatin zunächst in der Künstlerin selbst zu verorten, bevor sie sich mit ihrer Position nach außen wendet.

Hauptthemen und Struktur
Das Buch – eine Sammlung von Prosatexten – gliedert sich in drei Teile: einen deutschen Textteil, dessen englische Übersetzung durch die Autorin, und eine Reflexion mittels einer künstlichen Intelligenz über die Texte, ebenfalls auf Englisch. Der Untertitel „texte, skizzen, übersetzungen“ unterstreicht den Materialcharakter des Buches und deutet an, dass es sich um die Dokumentation eines künstlerischen Prozesses handelt.

Transzendenz und Utopie
Das Motiv des Buches als eine Form, die überschritten werden kann, zieht sich durch Eleonore Webers Werk. Dies wird symbolisch in den Texten reflektiert, insbesondere in „Das Buch der Maulwürfe“, das sich um Themen wie Transzendenz und Utopie dreht.  Die Hauptfigur erhält einen anonymen Brief, der sie auffordert, einen Entwurf für ein utopisches Buch zu erstellen, das noch nicht existiert. Sie reagiert darauf, indem sie ein „Buch der Maulwürfe“ entwirft, das Löcher aufweist, durch die man das Bestehende in Richtung Utopie verlassen kann. Diese Buchskizze wird in den Text integriert und nimmt dabei formal den Charakter eines „Mise en abyme“ an, einer Struktur, die sich selbstreferenziell enthält wie ein Spiegel im Spiegel.

Sprache und symbolische Ebenen
Ähnliche Themen finden sich auch in anderen Texten, die symbolisch auf eine externe, jenseitige Realität verweisen, seien es die Löcher in den gehäkelten Decken, das Gras, das durch die Löcher der Zeit durchwächst, oder die im Titel anklingende „Landkarte im Maßstab 1:1“, die zwar so aussieht wie das Land, aber eben nicht mit ihm identisch ist, also sprachlich nicht gefasst werden kann. Trotzdem, so lautet die unterschwellige Kritik im Text, werde das Land mittels Landkarte diskursiv angeeignet und in Besitz genommen, ohne das Unsprachliche fassen zu können:

"Eine Landkarte - meergrün auf Blaugrund - wird über das Land gebreitet und wer die Beschreibung kennt, darf es mitnehmen." (17)

Der Titeltext versucht, diese Aneignung poetisch zu unterlaufen, indem er die deskriptive Ebene verlässt und auf der sprachlichen, phonetischen Ebene ansetzt. Im Gegensatz zur rein deskriptiven Ebene der Sprache schafft die poetische Ebene neue Bedeutungen. Auf diese Weise werden ständig Grenzen ausgelotet. Das Moment der Überschreitung ist zugleich auch die Übertretung. Das, was von außen eindringt und das, was nach außen dringt, aber von ganz anderer Qualität ist, erscheint immer wieder in eingestreuten Bezügen:

„Gezeichnet ist nicht im wirklichen Leben, gezeichnet fürs Leben wird nur im Leben, der Cartoon spielt woanders“ (56)

Das wirft die Frage auf, was eigentlich gespielt wird und vor allem, wo gespielt wird. Das Buch selbst wird einer „Mise en abyme“ unterworfen, indem auf die anderen „Bühnen“ verwiesen wird, auf denen ebenfalls gespielt werden kann. Etwa auf das leere Dreieck zwischen Hände und Ellenbogen beim Schreiben, „das eigentlich ein Warndreieck ist“ (50).
In dieses leere Dreieck wird nun die Leser*in platziert.

Verweise und Resonanzen
Herausragend im Wortsinn sind die Verweise und Resonanzen, die ausgelegt werden wie Fäden und auf ein gemeinsames Textgeflecht hinweisen, dessen Zugehörigkeit nie klar abgegrenzt werden kann.
Bei der Transgression dringt das Meer in den Küstenraum ein, flutet das Land, setzt es symbolisch unter Wasser und spielt in vielen Texten eine wichtige Rolle. Eine Flut, die ins Sprachland eindringt und wie im Traum den Sinn umstellt, Worte in ihrem Eigenleben neu anordnet:

"Man sieht nur mit dem Herzen. Gut Nacht, die Augen.
Zu dreh das Licht. Ab.
Wie man sich bettet so liegt. Mann!!!
Das Wesentliche ist für die Augen. Unsicht.
Es ist eine Bar, in die wir jetzt kommen …" (13f)

oder

"Sechzehn Enden in tausend Blumen.
Sag mir, wo?
Die Blumen sind gleichmäßig rund." (14)

Passagen eines Marlene Dietrich Lieds und aus Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" erscheinen hier im Unterstrom einer Zerlegung. Die Überlagerung kommt auch in anderen Texten vor, etwa in der Erzählung „Frederico", wo ein Lied von REM (Nightswimming) mit der Reflexion von Walter Benjamin über den Engel der Geschichte überblendet wird:

Den Blick immer im Rückspiegel, nach rückwärts gerichtet, während die Fahrt in hoher Geschwindigkeit in die Zukunft führte. In ihrem Rücken kündigten sich die Ereignisse an — dunkle Schatten im Augenwinkel — stürzten an ihr vorbei und verschwanden schnell. Sie sah ihnen lange nach, bunte Flecken, die in einer Beuge des Stroms endlos ins Dunkel gespült wurden.“ (39)

Grenzüberschreitungen und Utopie
Vom Buch ausgehend, werden Begrenzungen ausgelotet bis hin zur Utopie, die außerhalb liegt, jedoch nur um das Umblättern einer Seite aus der Welt ist. Es ist eine subversive Praxis, ein anarchisches Potential wie im Text „How it feels“ über Nina Simone, der Indizes des Verlassens vordefinierter Spielräume trägt: „Dieses Lied zum Beispiel nehmen und umbauen vor laufender Kamera …“ (145)
In seiner Gesamtheit, als Objekt, repräsentiert das Buch etwas, das nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden kann. In der Tat gibt es eine Lücke in der sprachlichen Beschreibung, die sich in der Unfähigkeit manifestiert, von Liebe und Schmerz (in all ihrer anarchisch-emotionalen Wucht) zu sprechen.

Als wäre die Trauer durch die Löcher der Beschreibung ins Weltall entkommen, als wäre nur die Anekdote geblieben, um die sich die Trauernden in der Erinnerung versammeln (Callback, 88).

 „Landkarte im Maßstab 1:1“ ist kein Buch, das auf eine kohärente, inhaltliche Weise gelesen werden sollte. Vielmehr entfaltet es seine Wirkung durch die Vielzahl an philosophischen Reflexionen und poetischen Grenzüberschreitungen, die eine lineare Interpretation unterlaufen. In seiner Gesamtheit bietet „Landkarte im Maßstab 1:1“ eine tiefgehende persönliche und visuelle Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer und sprachlicher Ausdrucksformen. Es ist ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern erlebt werden möchte.

Petra Panther